An dem Tag, als mich
die Juroren küssten…
Ich sitze in einem Keller, Weinflaschen am Tisch und vereinzelt ein paar Leute. Meine Jurorin erhebt sich, schüttelt mir die Hand und meint, dass sie nun gehen müsse und nicht auf meinem Prozess warten könne, so sei nun mal der Betrieb und niemand habe es leicht. Ich blicke mich um und sehe hinter mir die Gitterstäbe einer dunklen Zelle. Und auf einmal ist es still um mich, Kerzenlicht flackert und die Gesichter der restlichen Personen verschwimmen immer mehr. „Du machst die Sprache zum Komplizen der Gewalt“, hallt es plötzlich durch den Raum, von irgendwoher eine andere Stimme: „Pornographie.“ Und plötzlich sitzt eine Frau vor mir, in blauem Kleid, und schreit „Opferschutz“ in ihr Mikrophon, dass mir ganz schwindlig wird. Mich drückt es an die Gitterstäbe und ich spüre die Kälte des Metalls, die langsam in meinen Körper dringt.
Dabei war am Morgen die Welt noch in Ordnung, ich habe gut geschlafen, in der Hotellobby gefrühstückt, dann kurz eine Gewandprobe. Nebenbei schalte ich den Fernseher ein, ein Kollege wird gerade in die Mangel genommen, ich drehe schnell wieder ab. Noch drei Stunden bis zu meinem Auftritt, ich lege mich wieder ins Bett. Aber nach einigen Augenblicken springe ich auf und bediene mich an der Hausbar, ein wenig Wodka beruhigt vielleicht doch. Drei Stunden, verflucht noch mal, langsam fühl ich mich wie ein Rennpferd, aber wie beruhigt man ein Rennpferd? Nach weiteren zwei langen Stunden trabe ich zum Start. Ich komme zur ORF Sendeanstalt, Leute im Garten, ab und zu ein neugieriger Blick. 13 Uhr 30, noch 30 Minuten. Wenig später sitze ich in der Schminke, bekomme irgendein Puder auf meine Haut, was auf meine Lippen, und ein paar Streicheleinheiten von der Visagistin. Dann kommt der Tontechniker und steckt mir das Mikro an. So, langsam kann es losgehen, noch 5 Minuten. Die Anspannung steigt, die Nervosität wird größer und größer. 14 Uhr, ich stehe mit dem Manuskript in der Hand im Gang und warte auf ein Zeichen, dass ich auf die Bühne kann. Aber nichts tut sich. Die vorhergehende Lesung ist noch nicht mal beendet, bemerke ich nun. Dann die Jurydiskussion, ich warte und warte, sie sprechen und sprechen, aber noch immer kein Ende in Sicht. Mein Puls schlägt von Minute zu Minute schneller. Ich gehe im Raum auf und ab, gefolgt von den Blicken der Tontechniker. Ab und zu ein beruhigendes Lächeln von der Visagistin. 14 Uhr 15, noch immer wird diskutiert. 3 SAT dreht um 15 Uhr ab, höre ich von irgendwoher. Das Rennpferd wird langsam müde. 14 Uhr 25, es tut sich was, oder doch nicht? Und plötzlich höre ich Applaus, 14 Uhr 30, und es heißt, auf die Bühne.
Ein Blitzlichtgewitter geht auf mich nieder. Menschen starren mich an, ich lasse mich in meinen Sessel fallen, hoffe, dass meine Stimme nicht versagt, und dann höre ich: „Herr Kleindienst, bitte sehr.“ Wörter dringen aus meinem Mund, nach einiger Zeit vernehme ich Stimmen vor mir. Das kann doch nicht sein, schießt es mir durch den Kopf, wer quasselt da? Noch immer Gemurmel. Kurz blicke ich auf und sehe, wie der Kameramann aufgeregt was in sein Headset spricht. Am liebsten würde ich ihm an die Gurgel springen. Kommt schlecht, vergiss es. Ich versuche mich wieder zu konzentrieren, nehme erneut Fahrt auf. Die Jurorin, neben mir, blättert angewidert in ihrem Manuskript. Wie kann sie bloß? Plötzlich wieder die Stimme des Kameramanns, der nun näher herangerückt ist. Ich stelle mir vor, wie ich wutentbrannt von dannen ziehe, aber ich kann mich nicht bewegen, noch immer dringen Wörter aus meinem Mund. Und irgendwann ist es vorbei. Applaus. Ich blicke auf und lehne mich erschöpft zurück. „Pornographie der Gewalt“, höre ich und bin leicht verwirrt. Ich mache „die Sprache zum Komplizen der Gewalt.“ „Das ist ein großer Vorwurf, soweit möchte ich nicht gehen“, vernehme ich jemand anderen. Ich bin kurz ratlos. Ich habe schwer daran gearbeitet eine adäquate Sprache für diese Geschichte zu finden, die möglichst unmittelbar ins Blut fahren soll.
Zwei Tage später werde ich in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ lesen, der eigentliche Skandal sei, dass ich nicht aus dem Bewerb ausgeschlossen worden bin, da ich keine Distanz zur Gewalt erkennen ließe. Damit wird noch mal Bezug auf die Kritik eines Jurymitglieds genommen. Beruf und Schreibverbot bekomme ich also auch gleich verhängt. Aber was wird denn da tatsächlich gefordert? Vor allem, was bedeutet es, wenn man diese Vorwürfe zu Ende denkt?
Jede Tageszeitung berichtet im Chronikteil in einem eindeutigen Täter-Opfer-Schema, vermittelt Informationen, die konsumierbar werden, eben dadurch dass es ein Täter-Opfer-Schema gibt, das moralisch einordenbar ist. Man kann sich durch diese Distanz von den abscheulichsten Sachen unterhalten lassen und sich zugleich auf der sicheren Seite fühlen.
Ein wesentlicher Unterschied von Literatur und Journalismus ist wohl genau dieser Punkt: Journalismus schafft Information, die größtenteils zur Unterhaltung verkommt, während Literatur Erfahrungswerte schafft, die im bestmöglichen Fall bis in die Bewusstseinsspur des Lesers vordringen. Dass aber eben nun von einzelnen Literaturkritikern genau das Gegenteil eingefordert wird, nämlich die Unterhaltung, mutet seltsam an. Denn der Vorwurf, ich lasse keine Distanzierung zum grauenvollen Geschehen erkennen und ich würde die Sprache zum Komplizen der Gewalt machen, zielt ja genau darauf ab.
Man will vom sicheren Hafen aus beobachten, wie das Boot untergeht, und sich anschließend, bei einem Gläschen Wein, über den Untergang des Boots unterhalten. Ich aber habe mir erlaubt, den Leser auf das Schiffchen mitzunehmen, um es dann ein wenig ins Wanken zu bringen. „Pornographie“, war der erste Hilfeschrei, und der Passagier wollte sofort wieder ans sichere Ufer zurück.
Schließlich möchte man doch lieber ungestört konsumieren und dabei nicht unangenehm berührt werden. Dieses Eingeständnis aus dem Mund von Literaturkritikern zu hören, ist erstaunlich, noch dazu wo ich ja als Ausgangsmaterial tatsächlich einen Zeitungsartikel herangezogen habe, den ich fiktional weitergesponnen habe. Ich glaube, hier liegt abseits der Frage nach der literarischen Qualität ein Missverständnis darüber vor, was Literatur überhaupt bedeutet.
Die Verkürzung des Gedankens kann ja wohl nicht das Ziel von Literaturkritik sein. Aber dieses „nicht zu Ende denken“, ist ja offenbar auch beabsichtigt: Tabuisieren, die Moralkeule werfen und sich dann in den Mutterschoß eines Systems zurück ziehen, das einen wärmt und ernährt.
Eine weitere Konsequenz, die dieser Argumentation innewohnt, ist wohl auch die, dass man die Diffamierung des Autors bewusst in Kauf nimmt. Dazu muss ich festhalten, dass ich weder Opfer noch Täter bin, sondern Schriftsteller.
Gänzlich absurd wird es, als eine Zeitung schreibt, aus Opferschutzgründen nicht über meine Lesung berichten zu können, als wäre ich plötzlich zu einem Konkurrenzunternehmen geworden. Anderseits mag es auch kein Zufall sein, dass Medien diesen Reflex zeigen. Als vor Ort bekannt wurde, dass ich als Ausgangsmaterial einen wahren „Zeitungsfall“ herangezogen habe, war die Empörung groß. Besonders einige Medienvertreter hatten nun plötzlich die Moral für sich entdeckt und erklärten mich für vogelfrei, so als müssten sie den Journalismus vor der Literatur schützen.
Ich verlasse den Saal, eine Journalistin möchte ein Interview, ich lehne unter dem Eindruck der Lesung dankend ab. Aufgeregtes Geschnatter um mich herum, darf er das denn tun? Ich werde mit bösen Blicken begutachtet und langsam fühle ich mich, als wäre ich der Protagonist aus meiner Story und müsste zur Rechenschaft gezogen werden. Ein Juror eilt, ohne mich eines Blickes zu würdigen, vorbei. Vorsichtshalber dreh ich das Handy ab und verlasse die ORF Sendeanstalt.
Zurück in meinem Hotelzimmer, hier bin ich sicher, noch keine Polizei, die mich in Empfang nimmt.
Aus einem Klagenfurter Tierheim sind alle Hunde entlaufen und irren durch die Stadt, große und kleine, manche fletschen gefährlich die Zähne. Ich gehe durch die Fußgängerzone und überall diese Hunde, von denen man nicht weiß, ob sie jeden Moment zubeißen werden. Plötzlich springt mir so ein kleiner Dackel an die Hand und beißt mir in den Daumen. Verdattert betrachte ich meinen Daumen und sehe wie ein Stück davon weghängt. Ich überlege ins Krankenhaus zu fahren, womöglich Tollwut oder so was, zumindest ansehen sollte ich mir den Daumen lassen. Ich irre durch die Straßen, noch immer überall streunende Hunde. Aus der Entfernung sehe ich zwei Rottweiler aus einem Einkaufszentrum kommen, als sie mich erblicken, beginnen sie zu bellen, kommen aber nicht näher, sie bellen bloß und verziehen sich dann wieder.
Am Sonntag findet die Preisverleihung statt, eine Kurzzusammenfassung der Lesungen läuft über den Bildschirm. „Skandal“, höre ich nochmals, ich sitze nun, seit langer Zeit wieder entspannt, auf meinem Stuhl und verfolge das Prozedere, betrachte nach einiger Zeit die Gewinner und dann die Nicht-Gewinner, schließlich den Bürgermeister und den Vizebürgermeister, beides kräftige Gestalten, im feschen Anzug.
Danach noch ein Gläschen Sekt im Garten, man verabschiedet sich, ein paar Telefonnummern werden ausgetauscht, mit ein paar Schriftstellerkollegen hat man sich in den letzten Tagen ja doch angefreundet.
Und dann verlasse ich froh, zumindest nicht geteert und gefedert worden zu sein, und um eine Erfahrung reicher Klagenfurt.