Freifahrt

»Plötzlich bemerkte er eine Sternschnuppe, ein flackerndes Licht zog über den Himmel. Erwin erinnerte sich, dass man sich was wünschen konnte. Aber er wünschte sich nichts.

Erwin ist ein seltsamer Kerl. Er lebt alleine am Rande einer Kleinstadt, ohne Freunde, ohne Arbeit und ohne Perspektive. Ab und zu besucht er das Café um die Ecke oder treibt sich im Einkaufszentrum herum. Einmal in der Woche fährt er zum elterlichen Bauernhof, den er verlassen musste, als sein Schwager einzog. So plätschert sein Leben dahin. Bis der Vater ihm eines Tages eine Jahreskarte der ÖBB schenkt. Vorerst irritiert über das »blöde« Geschenk, besteigt er dann doch, eher zufällig, einen Zug, beginnt ziellos durch die Gegend zu fahren und findet Geschmack daran. Sein Leben kommt in Bewegung … Während Erwin unterschiedlichen Existenzen begegnet, die die Abteile und Wartezonen zwischen Villach und Salzburg, Wien und Innsbruck bevölkern, gerät ihm sein Herumfahren immer mehr zum Abenteuer, wird zu einer Art Road Movie, das so manche skurrile Wendung nimmt: So verliebt er sich nach einer kurzen Begegnung in die junge Polin Agnieszka … und macht sich auf die Suche nach ihr.

In seiner neuen Erzählung erweist sich Josef Kleindienst als Meister der Atmosphäre und Charakterzeichnung. In knappen Sätzen beschreibt der Autor das Schicksal eines Getriebenen ohne Antriebskraft. Gerade die Vermeidung eines psychologischen Vokabulars, die Perspektive von Außen, die Beobachtung der Bilder und Eindrücke, die sich in den Gedanken des Protagonisten spiegeln, erschaffen ein Porträt von besonderer Tiefe.

Josef Kleindienst, Freifahrt, Erzählung
Hardcover, 140 S.
Format: 13,5 x 21 cm
ISBN 978 3 85449 384 6

Durch den markant kurzen Erzählstil gewinnt der Text an Fahrt, und die Geschichte des zurückgezogenen Erwin wird zu einem Bahnroadmovie mit “stilistischer” Action, wie ein schnell geschnittener Film. (the gap)

Blog zum Buch: erwinsfreifahrt.tumblr.com/

Leseprobe

Erwin ging an grauen, verwahrlosten Häusern vorbei zurück zum Bahnhof. Die Stadt gefiel ihm nicht. Als er feststellte, dass kein weiterer Zug mehr nach Wien fuhr, bekam er eine Wut auf den Polizisten. Erwin setzte sich ins Restaurant, wieder an den Tisch, an dem er zuvor schon gesessen war. Zwei der Männer von vorhin saßen immer noch an der Theke und tranken Bier. Der Hagere mit dem kleinen Bauch war verschwunden. Dafür hatte sich ein kleinwüchsiger, ständig vor sich hin plappernder Mann auf den Barhocker an der Mitte der Theke gesetzt. Irgendwie erinnerte er Erwin an den Messner, der auch ständig erzählte, ohne dass ihm jemand zuhörte. Neben dem Eingang zur Theke saß eine junge kräftige Frau mit langen blonden Haaren. Als die Kellnerin ihn bemerkte, kam sie zu ihm. Erwin bestellte wieder ein Cola. Die Kellnerin holte eine Colaflasche und stellte sie ihm mit einem Glas auf den Tisch. Erwin betrachtete ihre  Hände. Der kleinwüchsige Mann plapperte mal lauter, mal leiser. Die übrigen Gäste schienen sich nicht daran zu stören. Erwin nahm einen Schluck Cola. Anstatt Agnieszka zu treffen, würde er hier sinnlos seine Zeit vergeuden, ärgerte er sich. Plötzlich saß der kleinwüchsige Mann an seinem Tisch. Erwin hatte ihn gar nicht kommen gesehen. Der Mann trank weiter sein Bier und plapperte. Hin und wieder blickte er zu Erwin und lachte einfach. Erwin war sich nicht sicher, ob er ihn nicht auslachte. Der Knirps schaute hinüber zur Theke. Sekunden später hatte er seinen Blick wieder auf Erwin gerichtet. Nun lachte er noch lauter, um gleich darauf erneut unverständliches Gerede von sich zu geben. Der Fremde hatte eine krumme Nase mit zwei kleinen Höckern. Entweder hatte er mal eins auf die Nase bekommen oder er war unglücklich gestürzt. Erwin vermutete ersteres. Er hatte leicht gewelltes, hellblondes Haar. Eine Weile saß der Mann ruhig auf dem Stuhl, kurz darauf lachte er wieder laut. Dazu klopfte er sich auf seine Oberschenkel. Erwin schaute ihn ernst an. Er war ihm unheimlich. Anfangs hatte Erwin angenommen, der Mann sei betrunken. Aber seine Bewegungen waren klar. Vielmehr glaubte er nun, dass er einfach verrückt war, möglicherweise sogar ein Inzestkind, was in den Bergen oft vorkam. Zwar kannte Erwin keine Inzestkinder, aber er hatte gehört, in schwer zugänglichen Bergdörfern gäbe es sie. Früher häufiger, heutzutage eher selten, da die Mobilität gestiegen sei, hatte ihm einmal ein Bekannter erzählt. Erwin betrachtete den Mann genauer. Sein linker Ringfinger war abgetrennt, nur ein Stummel war zu sehen. Vielleicht war er als Kind in die Wurstmaschine geraten. Erwins Sitznachbar in der Schule war als Fünfjähriger in eine solche Maschine gekommen und hatte einen ähnlichen Stummel an der Hand. Durch das halbleere Bierglas, das der Mann umklammerte, war der Fingerstummel zusätzlich in die Breite gezogen. Erwin sah zur Kellnerin, die sich mit der Frau unterhielt. Wieder hörte er das Lachen des Mannes, das ihn nun erschrak. Als wäre es kein Lachen, sondern ein Schrei, als wäre ihm sein Finger gerade abgetrennt worden. Im nächsten Moment saß er wieder ganz ruhig vor ihm. Fast schien es, als würde er schlafen. Erwin fragte sich, wo er wohl wohnte. Wahrscheinlich ging er jeden Abend alleine in eine kleine trostlose Wohnung am Stadtrand. Und bereits in aller Früh schleppte er sich wieder ins Restaurant, um ein wenig Gesellschaft zu haben. „Karl, trinkst noch was?“ Die Kellnerin schüttelte den Mann, der tatsächlich eingenickt war. Karl fuhr auf und schaute sich erschrocken um. Als er Erwin sah, begann er sofort wieder hysterisch zu lachen. Erwin wollte nicht mehr mit dem Fremden an einem Tisch sitzen. „Zahlen“, rief er. Doch die Kellnerin war bereits hinter der Theke verschwunden und hörte ihn nicht. Erwin schaute zum Mann, ihre Blicke trafen sich kurz. Dann plapperte der Fremde wieder unverständliches Zeugs. Der Speichel tropfte ihn aus dem Mund. „Zahlen“, rief Erwin erneut. Diesmal hörte ihn die Kellnerin und kam mit ihrer schwarzen Kassiertasche zu ihm. „Zwei achtzig.“ Erwin gab ihr drei Euro, die sie wortlos in ihre Tasche steckte. Als sie sich nach vorne beugte, roch er ihren Schweiß; er sah die Ansätze ihrer Brüste. Der Fremde setzte sich wieder auf den Hocker an der Bar. Erwin griff nach seiner Tasche und als er sie nicht sofort spürte, blickte er erschrocken unter den Tisch.  Sie war ein wenig unter seinen Sessel gerutscht. Erwin nahm sie und verließ das Restaurant. Hinter sich hörte er das Lachen des Mannes. Vor dem Bahnhofsgebäude, in der Nähe des Taxistandplatzes, setzte er sich auf eine Bank. Zwei Taxifahrer unterhielten sich neben ihren Autos und rauchten Zigaretten. Ein anderer Fahrer schlief auf dem Vordersitz seines Mercedes. Erwin blickte auf die Uhr am Bahnhofsgebäude. Es war kurz vor zehn. Er zog sich seine Jacke an. Der seltsame Kerl kam aus dem Restaurant. Mit schnellen Schritten steuerte er direkt auf ihn zu.

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